sela. DER BLOG

Der Blog des Gebetsmagazins sela. greift Fragen auf, die rund um das Thema Gebet aufkommen.

Das Vaterunser – ein Gebet des Loslassens

Das Vaterunser hat in meinem Leben lange Zeit keine große Rolle gespielt. In meiner Freikirche kommt es im Gottesdienst eher selten vor. Und wenn, dann war es mir immer zu schnell. Ich spürte, dass eine tiefe Bedeutung in diesen Worten liegt, aber kaum fing ich an, über eine Bitte nachzudenken, war der Rest des Vaterunsers schon vorbeigerauscht. In den Jahren, als ich als Gemeindepastor gearbeitet habe, kam zusätzlicher Stress hinzu: Nun stand ich am offenen Mikrofon und betete das Vaterunser mit der Gemeinde zusammen. Immer hatte ich die Sorge, ich bekäme einen Blackout, würde eine Zeile vergessen und alle würden hören, dass ich das Vaterunser nicht richtig kann. Tatsächlich ist das nie passiert, aber diese Befürchtung hat eine tiefere Freundschaft zu dem Gebet verhindert.

Mein Grübeln und sein Wille

Irgendwann aber, vor Jahren, kam mir dieses Gebet wirklich nahe. Als wir es in einem Gottesdienst mal wieder beteten, kam es mir vor, als würden alle Puzzleteile im selben Moment an den richtigen Platz fallen: Das ist ja ein Gebet des Loslassens! Ich lasse mich selbst los und vertraue mich dem Vater an. Ich lasse meine Sorgen ums tägliche Brot los, meine Schuld und meine Anklagen. Und auch die Fragen, warum in meinem Leben bestimmte Dinge vorgekommen sind. Ich neige da gelegentlich zum Grübeln: Warum ist mir dies und das passiert? Was wäre, wenn jene Jahre anders verlaufen wären? Wenn sich der ein oder andere anders verhalten hätte? Oder ich selbst andere Chancen genutzt hätte?

In dem besagten Gottesdienst wurden diese Fragen aufgehoben von der Bitte: „Dein Wille geschehe!“ Mir wurde klar: Den Punkt, an dem ich jetzt gerade in meinem Leben angekommen bin, habe ich nicht ohne Gottes Willen erreicht. Er hat die Übersicht. Ich selbst wäre völlig überfordert, mein Leben zu planen oder auch nur im Rückblick zu deuten. Es ist besser, wenn sein Wille geschieht, als wenn sich meine Vorstellungen realisiert hätten.

Es ist besser, wenn sein Wille geschieht, als wenn sich meine Vorstellungen realisiert hätten.

Als ich in dieser Haltung das Vaterunser betete (ich kam gerade noch so mit bei dem normalen Gebetstempo ...), ging es wie ein Aufatmen durch meine Seele: Es tut gut, zum Vater zu kommen und loszulassen.

Ein Feierabend-Gebet

Wenn das Vaterunser so gut zum Loslassen geeignet ist: Wäre es dann nicht auch ein passendes Gebet zum Feierabend? Wenn der Rechner runterfährt und ich mich in der Zeiterfassung ausgeloggt habe, um nach Hause zu radeln?

Ich habe den Test gemacht. Und gemerkt: Ja, auch hier entfaltet das Gebet des Herrn seine Kraft. Ich kann das Tagewerk aus der Hand geben und an Gott abgeben. Ich bete zum „Vater im Himmel“. Der ist nicht primär an meiner Tagesleistung interessiert, und auch wenn es ein Tag voller Misserfolg war, ist er nicht weiter weg als sonst. Ich arbeite zwar in einem christlichen Verlag, arbeite also irgendwie auch für Gott. Aber wenn ich nach Feierabend „Vater unser“ sage, rede ich nicht meinen Arbeitgeber an, sondern den Gott, der wie ein Vater nach mir schaut.

Sein Name soll geheiligt sein. Ein Name ist zum Anreden da. Diese Bitte führt mich zurück an die Wahrheit, dass Gott mit mir Umgang haben möchte. Die Verbindung zu ihm ist wichtiger als das, was ich heute gearbeitet habe. Nicht an jedem Tag habe ich das Meine dazu getan, dass sein Name geheiligt wird. Oft waren andere Ziele und andere Gedanken prägender. Aber spätestens jetzt, auf dem Fahrrad nach der Arbeit, kann ich noch mal bewusst Kontakt suchen und mich auf ihn ausrichten.

Wenn öde Routine sinnvoll wird

Sein Reich soll kommen. Durch das, was ich heute gelesen, geschrieben, redigiert, lektoriert oder telefoniert habe, konnte ich sein Reich vielleicht fördern. Wenn das gelang, war auch langweilige Routinearbeit sinnvoll. Und der Ertrag des Tages besteht dann nicht im abgehakten Tagespensum, sondern ich freue mich daran, dass Gott meine Versuche von heute in sein Reich einbauen kann.

Ich freue mich daran, dass Gott meine Versuche von heute in sein Reich einbauen kann.

Sein Wille soll geschehen. Die Frage ist unvermeidlich, ob das an meinem Arbeitstag passiert ist. Das meiste, was ich heute zu tun hatte, bemaß sich an den Terminplänen der Zeitschriften und Projekte. Der Wille des Verlagsleiters geschehe? Aber in der Ausgestaltung meiner Arbeit habe ich große Freiheiten. Kann Themen fördern oder verwerfen. Kann mich mutig für einen unpopulären Inhalt entscheiden, wenn er nach Gottes Maßstäben wichtig ist, und vielleicht so kreativ werden, dass man den Text darüber dennoch gern liest. Ich kann mit Autoren kurz angebunden oder respektvoll korrespondieren.

Und nicht zu vergessen: Gottes Wille hat ja nicht nur etwas mit meinem Arbeiten zu tun, sondern auch damit, wie ich den Kollegen begegne. Ob ich eine Sorge wahrnehme, wo jemand nur einen knappen Satz hinwirft, und darauf eingehe. Und auch während der Arbeit bin ich Ehemann und Vater. Meine Lieben mit Zwischendurch-Segensgebeten zu begleiten, gehört vermutlich auch zum Willen Gottes. Es gibt Tage, da klappt das alles. Und andere Tage, wo ich gleich übergehen kann zu der Bitte „Und vergib uns unsere Schuld“.

Falsche Einstellungen loslassen

„Erlöse uns von dem Bösen“: Ich muss dabei unwillkürlich auch an die tief eingeschliffenen Verhaltensmuster denken, die ich mitschleppe. Feigheit manchmal, Desorganisation, Gedankenlosigkeit. Immer wenn das andere belastet, ist das von der Wirkung her „böse“, auch wenn ich es nicht böse gemeint habe. Im Vaterunser, dem Gebet des Loslassens, kann ich den falschen Gedanken an Gott abgeben, dass ich mich nicht mehr ändern könnte.

Ich kann den falschen Gedanken an Gott abgeben, dass ich mich nicht mehr ändern könnte.

Das tägliche Brot für heute: Ich danke für meinen Arbeitsplatz, an dem ich mir meine Brötchen verdienen kann. Sein ist das Reich. Ich baue nicht primär an meiner Karriere oder meinem kleinen Imperium. Sein ist die Kraft. Ich habe meine Grenzen, aber er kann darüber hinausgehen. Sein ist die Herrlichkeit. Dieses Wort steht in der Bibel auch für „Ehre“. Ich kann verschmerzen, wenn mir jemand einmal keinen Respekt gezollt hat, denn „bei Gott ist mein Heil und meine Ehre“ (Psalm 62,8). Er soll groß herauskommen. Wenn das mein Arbeitstag gebracht hat, war er gut. Ja, ich glaube, das Vaterunser besteht diesen Praxistest. Es ist ein Gebet des Loslassens, speziell auch für den Feierabend. Ich freue mich an dieser Entdeckung. Und nehme mir vor, dass aus der Versuchsreihe eine Gewohnheit werden soll.

Dr. Ulrich Wendel

Redakteur von Faszination Bibel und von sela. Das Gebetsmagazin.

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