Wer heilt?
Wer ist es eigentlich, der heilt, wenn wir darum beten – oder wenn die Gemeinde ihren Auftrag zur Krankenheilung umsetzt? Gott? Jesus? Wir Christen?
Blättern wir das Neue Testament auf diese Frage hin durch, dann ergibt sich eine mehrschichtige Antwort.
- Die Apostel bzw. die Jünger machen Menschen gesund. „Heilt die Kranken“, sagt Jesus ihnen, und Heilungswunder geschahen „durch die Hände der Apostel“ (Mt 10,8; Apg 5,12).
- Doch es sind nicht eigentlich die Menschen, sondern Heilung geschieht „durch den Namen deines heiligen Knechtes Jesus“ (Apg 4,30; vgl. 3,6.16; 4,10).
- Jesus ist der, der heilt, auch nachdem er nicht mehr sichtbar auf der Erde ist. Deshalb sagt Petrus einem Kranken: „Jesus Christus macht dich gesund!“ (Apg 9,34). Der Herr wirkte die Zeichen und Wunder durch die Boten – die Boten waren „Instrumente,“ der Wirkende aber war der Herr (Apg 14,3).
- Der Glaube hat geheilt: „Durch den Glauben an seinen Namen hat sein Name diesen … stark gemacht; der durch ihn bewirkte Glaube hat ihm diese vollkommene Gesundheit gegeben …“ (Apg 3,16).
- Als Jesus vor Ostern auf der Erde wirkte, heilte er selbst – und zugleich war es Gott, der heilte. So heißt es in Lukas 5,17: „… und die Kraft des Herrn war durch ihn wirksam, so dass er Heilungen vollbrachte.“
Daraus müssen wir folgern: Gott hat uns, seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern, große Vollmacht und Verantwortung anvertraut, aber wir können sie nicht so ausüben, als wären allein wir die, die wirksam sind. Wir müssen immer rückgebunden an Jesus und seinen Namen sein, an Gott selbst, und durchscheinend bleiben. Das gilt zweifellos auch für diejenigen, die eine Spielart der Gabe der Krankenheilung haben. Wie sensibel es ist, wenn Glaubende jemanden in Vollmacht heilen, zeigt der Bericht aus Apostelgeschichte 14,8-18: Paulus hat bei dem Gelähmten Glauben erkannt und ihn deshalb aufgefordert, sich hinzustellen. So weit ist das ganz im Rahmen all der anderen Heilungsberichte. Zweifellos hat der Kranke nicht an Paulus, sondern an Jesus geglaubt. Allerdings erkennen die Zuschauer den Zusammenhang nicht, sehen nur den Heiler und halten ihn für eine Gottheit. Für uns könne wir daraus folgern, dass wir immer klar transparent machen sollten, dass Jesus der ist, der heilt, und dass unsere Beteiligung immer nur von der Macht Gottes abgeleitet ist.
Wie wurde im Neuen Testament vorgegangen?
Wenn wir etwas über die Praxis des Heilungsgebetes erfahren wollen, ist es eine gute Idee, uns am Neuen Testament zu orientieren. Auch hier entdecken wir ein vielfältiges, ja fast uneinheitliches Bild. Es zeichnen sich kaum feste Muster ab – so mein Eindruck.
Bei den Aposteln bzw. ersten Christen in der Apostelgeschichte sehen wir, dass sie ein Gebet sprachen, dass Hände aufgelegt wurden, dass die Heilung angekündigt bzw. Zugesprochen wurde und auch, dass Gelähmte jetzt aufstehen sollen, weil sie geheilt seien. Ein bestimmtes Bekenntnis der Kranken wird nicht erwähnt, auch lesen wir nicht, dass einer Krankheit befohlen oder geboten wurde. Nirgends wird ein Muster als Leitlinie angegeben.
Bei Jesus sind die Worte, Gesten und Begleitumstände noch vielfältiger. Ich erkenne auch bei Jesus kein bestimmtes Muster, aus dem wir Schlussfolgerungen für uns ziehen können.
Wenn Jesus Einzelnen sagt: „Sei rein“ oder „sei sehend“ o.ä., dann ist das nach meiner Einschätzung ein göttliches Schöpferwort – so wie Gott am Anfang sagte: „Es werde Licht!“ Ich würde zunächst davon ausgehen, dass so ein Schöpferwort Jesus vorbehalten ist. Im Gebet würde ich es allenfalls dann jemanden zusprechen, wenn ich einen starken prophetischen Eindruck bekommen habe, dass Gott tatsächlich jetzt heilend handeln will. Ich halte das für eine Ausnahme.
Sowohl Jesus als auch die Apostel bzw. ersten Christen fordern einen Kranken manchmal auf: Steh auf und geh als Gesunder los! Auch hier wäre ich zurückhaltend, dies einem Kranken nach dem Gebet zuzurufen oder abzuverlangen. Hier müssen Fragen der Seelsorge und der Weisheit berücksichtigt werden, ebenso muss der Aspekt des Maßes des Glaubens eine Rolle spielen: Kann ich dieselbe Glaubensgewissheit, die ich vielleicht habe, vom Kranken als direkt Betroffenem, erwarten? (Mehr zum Maß des Glaubens im Abschnitt „Zwischen Glauben und Hoffen“)
Ganz generell sollten wir bei den neutestamentlichen Berichten im Blick behalten, dass es Beschreibungen sind, Zeugnisse von Gottes Macht und Möglichkeiten, aber keine Anweisungen und meist keine verbindlichen Vorgaben.
Heilung und Leiden
Das Neue Testament erinnert uns daran, dass es auch gläubige und einsatzstarke Christen gibt, die krank blieben (Timotheus, 1Tim 5,23; Trophimus, 2Tim 4,20). Diese knappen Notizen geben keine Hinweise, um die betreffenden Krankheiten einzuordnen. Aber sie zeigen: So etwas kommt vor im Reich Gottes. An anderer Stelle spricht Paulus ausführlicher von seinen eigenen Leiden. Er hat in ihnen einen Segen entdeckt. In seiner Schwäche kam die Kraft von Christus zur Geltung, klarer wohl als in seiner Stärke (2Kor 12,9). Die vielen Schwierigkeiten und Einschränkungen, mit denen er sich herumschlagen musste, hatte den Segenseffekt, dass er und seine Mitarbeiter ihr Vertrauen nun auf den Herrn setzten und nicht auf sich selbst (2Kor 1,9). Diese Leidenserfahrungen sind eingebettet in ein Leben, das vielfach und regelmäßig die Kraftwirkungen Gottes erfuhr, zu denen zweifellos auch Krankenheilungen gehörten (Röm 15,19; 2Kor 12,12; Gal 3,5).
Es ist nicht ganz klar, ob auch Krankheit Teil der Leidenserfahrungen von Paulus war. In der Bibelauslegung wird für seinen „Dorn im Fleisch“ (2Kor 12,7) überwiegend angenommen, es handle sich um ein (uns heute nicht näher bekanntes) Krankheitsbild. Zumeist spricht Paulus aber von seinen Belastungen und Bedrückungen im Zusammenhang seines Dienstes für das Evangelium. Er nennt Verfolgung, Angst, Hunger, Kälte und vieles mehr. Dafür benutzt er oft das Wort „Bedrängnis“ bzw. „Engpass“.
Auf diesem Hintergrund nehmen viele Christen an: Bedrängnisse sind die Einschränkungen, die der Dienst für das Evangelium mit sich bringt; sie sind der „Preis“, den man zahlen muss. Wenn man sich nicht für Gottes Reich einsetzen würde, gäbe es solchen Widerstand auch nicht. Gewöhnliche Krankheiten, an denen jeder Mensch leidet, egal ob im Dienst für Gott oder nicht, würden demnach nicht dazugehören. Während im Leiden und den Bedrängnissen ein Segen liegt, könne man das für normale Krankheiten nicht behaupten.
Ich glaube nicht, dass so eine strikte Trennung sachgemäß ist. Denn wenn wir hingegebene Nachfolgerinnen und Nachfolger Christi sind, dann ist unser ganzes Leben ein Gottesdienst (Röm 12,1-3) – nicht nur die Zeiten, in denen wir uns aktiv für Gottes Reich engagieren. Auch „normale“ Krankheiten, die jeden treffen können, sind daher eine Einschränkung für unseren Alltags-Gottesdienst. Sie rauben uns vielleicht unsere Konzentration beim Gebet, sie schmälern unsere Einsatzkraft, uns ist u.a. nicht mehr möglich, uns anderen in Liebe so zuzuwenden, wie wir es können, wenn wir gesund sind. All diese Krankheiten sind auch eine Anfechtung für unser Leben vor Gott. Daher sind sie schon den Bedrängnissen vergleichbar, die Paulus in seiner Arbeit für das Evangelium erlebte. So wie Paulus nicht erfuhr, dass ihm all seine Bedrängnisse genommen wurden, so müssen auch wir erleben, dass manche Krankheit über einen längeren Zeitraum bleibt. Und so wie Paulus in seinen Bedrängnissen Segen entdeckte, so können wir es auch in unseren Schwächephasen und Krankheiten. Gott beginnt nicht erst in dem Moment zu wirken, wenn er uns heilt.
Ich bin auf eine Verheißung aus Psalm 41 aufmerksam geworden. Im Vers 4 heißt es dort: „Der HERR wird ihn auf dem Krankenbett stärken; sein ganzes Lager hast du in seiner Krankheit gewendet“ (Einheitsübersetzung); „Der HERR wird ihn stützen auf dem Siechbett, sein ganzes Lager wandelst du um in seiner Krankheit“ (Elberfelder Bibel). Dieser Vers ist nicht leicht zu übersetzen; andere Bibelübersetzungen greifen hier zu Umschreibungen. Die eben zitierten Übersetzungen kommen aber dem hebräischen Text am nächsten. Diese Verheißung gilt denen, die auf die Geringen achthaben. Was genau ist diesen Menschen versprochen?
- Sie erfahren Stärkung auf dem Krankenbett, also während des Krankenlagers – nicht erst, wenn sie das Krankenbett verlassen konnten.
- Ihr Krankenlager, d.h. ihr Krankheitszustand wird völlig verwandelt – und zwar in ihrer Krankheit, nicht nach ihrer Heilung.
Für mich ergibt sich daraus das Bild: Es kommt vor, dass Kranke auf Gott vertrauen und (zunächst) krank bleiben – aber „anders krank“ sein können. Sie erfahren Kraft in der Krankheit, sie sind wie ausgewechselt in ihrer Krankheit.
Diese biblischen Beobachtungen bringen mich dazu, mit einem breiten Erwartungshorizont für Kranke zu beten. Ich erwarte Segen, indem Gott heilt, und auch Segen in der Krankheit. Dabei ist Genesung meine erste Bitte, denn auch angesichts der Erfahrungen und Einsichten von Paulus über das Leiden gilt, dass Jesus die Kranken geheilt und nicht krank zurückgelassen hat.